Flucht 1989 aus der DDR über Prag nach Deutschland

„In der Botschaft waren wir zwei Tage, es gab nicht genug Verpflegung, etwa 5.000 Leute waren dort. Toilette, Duschen, alles war problematisch. Da kam eine Frau ganz aufgeregt zu uns, wir sollten auf unsere Kinder aufpassen. Ich habe gesagt: „Die können ja hier nicht weg, es ist ja alles zu.“ „Ja, aber die haben Stasi-Mitarbeiter eingeschleust, die die Kinder einkassieren und so die Eltern freipressen.“

Im September 1989 haben wir von Nordhausen aus die Flucht angetreten. Wir hatten eine tolle Wohnung, es ging uns nicht schlecht, aber wir hatten keine Freiheit, wir fühlten uns eingeschränkt. Das Problem im Alltag war, dass man seine Meinung nicht laut sagen durfte und immer aufpassen musste, was man sagte. Man musste vor allem ganz vorsichtig sein, wenn man sich über das System beschwerte – da reichte es schon, einen Witz zu erzählen, um Schwierigkeiten zu bekommen.

Irgendwann haben wir uns überlegt: Wir versuchen, über Tschechien nach Ungarn zu kommen, dort gab es ja keinen Grenzzaun. Wir wussten nicht, dass die Tschechen schon von unserer Stasi den Auftrag erhalten hatten, dort zu kontrollieren. Die Wohnung hatten wir nach und nach leergeräumt, weil wir wussten: Wenn so etwas bekannt wird, wird sie von der Stasi beschlagnahmt. In vier Autos hatten wir das Nötigste eingepackt, als ob wir in den Urlaub fahren würden – damit es nicht auffällt. Dann ging es im Konvoi in Richtung Dresden los, und wir haben im Halbstundentakt die Grenze passiert.

Irgendwie verloren wir im Wald die Orientierung. Einige unserer Männer wollten auskundschaften, ob sie irgendetwas sehen. Mit einem Mal hörten wir zwei Schüsse. Die Kinder schrien wie am Spieß. Dann kamen die Tschechen, sie hatten uns erwischt und eskortierten uns aus dem Wald.

Petra Beßler – Koffer
Koffer

Sie verhörten unsere Männer die ganze Nacht, sie mussten aus den Koffern und Taschen alles auspacken. Alles, was darin war, schrieben sie auf. Nebenher tranken sie die ganze Zeit Schnaps.

Schließlich inhaftierten sie die Männer, und wir Frauen und die Kinder sollten auf dem schnellsten Wege in die DDR fahren und an einem bestimmten Grenzübergang eintreffen. Das waren bestimmt 400 bis 500 Kilometer Strecke. Wir wurden getrennt. Unsere Männer gaben uns noch mit auf den Weg: „Ihr fahrt nicht zurück! Ihr müsst nach Prag, egal wie, denn wenn ihr an die Grenze kommt, dann wisst ihr ja, was passiert – dann kommt ihr genauso in den Knast und die Kinder irgendwo hin.“

In der Prager Botschaft waren wir zwei Tage – mit etwa 5.000 anderen Menschen. Es gab nicht genug Verpflegung, kaum Toiletten oder Duschen, alles war problematisch.
Da kam eine Frau ganz aufgeregt zu uns, wir sollten auf unsere Kinder aufpassen.
Ich sagte: „Die können ja hier nicht weg, es ist ja alles zu.“
„Ja“, erwiderte sie, „aber die haben Stasi-Mitarbeiter eingeschleust, die die Kinder einkassieren und so die Eltern freipressen.“
Neu Hinzugekommene brachten Zeitungen mit. Die DDR-Presse schrieb über uns: „Arbeitsscheue und asoziale Elemente halten sich dort auf.“

Wir wurden dann am 4. Oktober gegen Mitternacht mit Bussen zu einem Bahnhof außerhalb von Prag gebracht. Die Türen der Züge wurden gleich verplombt. Wir fuhren die Nacht durch und kamen am Morgen in Plauen an. Dort verabschiedete uns noch einmal die Stasi und nahm uns unsere Ausweise weg. Wir hatten dann nichts mehr. Das war noch einmal ein Moment der Angst, als die vor einem standen – die waren ja nicht gerade nett. Und wir hatten ja nun in unserem Ausweis den Stempel, dass wir versucht hatten, über Ungarn zu flüchten. Da habe ich so eine Angst gehabt, dass die uns rauszerren! Zum Glück geschah nichts. Am 5. Oktober kamen wir in aller Frühe in Hof an.

Mein Mann wurde im Gefängnis in Erfurt bei den Verhören durch die Staatssicherheit noch mal angegriffen, er habe seine Familie „wegen Bananen ins Unglück gestürzt“. Er erfuhr nicht, was aus uns geworden war, das war das Allerschlimmste. Er verweigerte letztendlich die Nahrungsaufnahme. Irgendwann erwirkte er damit, dass man ihm sagte, dass wir bei unserer Verwandtschaft gelandet seien, dass es uns gut gehe und wir versorgt seien. Er konnte später zu uns in den Westen nachkommen.

Mein Sohn war durch diese Schüsse lange traumatisiert. Wir haben uns noch mal mit Freunden im Thüringer Wald getroffen, als die Grenzen bereits offen waren. Wir sind einen kleinen Waldweg hochgefahren, das war für ihn schon zu viel, er hat sofort Panik bekommen. Er hatte verinnerlicht: Im Wald wird geschossen.

Der Koffer erinnert mich an die Reise, ich muss immer wieder dran denken, wie ich in Prag ganz alleine mit meinem Sohn dastand. Ich sollte mitnehmen, was ich tragen kann – das Kind hatte ich unter dem Arm, den Koffer in der Hand. Darin waren wichtige Papiere, die ich brauchte. Ich habe ein Bewusstsein durch die Flucht entwickelt, wie wichtig es ist, dass man in Freiheit lebt – und dass Dinge wie eine Grenze nicht sein müssen.