Flucht 2012 Syrien » Türkei (2,5 Jahre) » Griechenland » Nordmazedonien » Serbien » Ungarn » München
„Das Schwierigste waren die Wellen, diese Wasserwucht. Uns ging es sehr schlecht, weil meine Kinder noch so klein waren, ich habe das eine Kind auf der einen Seite, das andere Kind auf dem anderen Arm getragen – und wir hatten noch unsere Koffer und unsere Kleidung dabei.“
Ich habe mit meiner Familie in Aleppo gelebt. Wir besaßen ein Haus, ich hatte eine gute Arbeit als Betonleger, es gab keinerlei Schwierigkeiten. 2011 fing dann der Krieg an. Ich habe mich entschieden, zur Sicherheit mit meiner Familie in die Türkei auszureisen und dort ein paar Monate zu leben – eigentlich wollte ich, wenn es wieder besser wird, in meine Heimat zurückkehren. Meine fünf Kinder waren zur damaligen Zeit noch ziemlich klein, sie waren 16, 14, 12, 10 und 4 Jahre alt. Ich habe mir und meiner Familie eine bessere Zukunft erhofft, Sicherheit für die Kinder, und habe gedacht, diese in der Türkei zu finden.
Als wir in der Türkei ankamen, war es sehr heiß, wir bekamen erst mal kein Essen, es war sehr schwierig, besonders für die Kinder. Das größte Problem war die Angst, zu fliehen und die Ungewissheit zu ertragen, was uns erwartet. Leider wurde meine Situation in der Türkei noch schwieriger als in Syrien – ich fand keine Arbeit, die Mädchen mussten in einer Textilwerkstatt aushelfen, sie waren von morgens bis abends dort. Ich versuchte schließlich, einen Weg zu finden, um nach Europa zu fliehen.
In der Türkei wurde meine jüngste Tochter geboren. Sie war einen Monat alt, als wir nach etwa zweieinhalb Jahren die Türkei wieder verließen. Ich hatte mit einem Schleuser vereinbart, dass er uns in einem Boot nach Griechenland bringt. Vereinbart war es, mit insgesamt 35 Menschen in diesem Boot zu fliehen.
Am Hafen sah ich jedoch, dass schon mehr als 60 Personen darin saßen. Wir weigerten uns, mitzufahren, weil es uns zu gefährlich erschien. Ich wollte mit meiner Frau und meinen Kindern dort bleiben und auf das nächste Boot warten. Aber wir wurden mit Waffen bedroht, dass man uns umbringe, wenn wir nicht mit den anderen fliehen würden.
Das Schlimmste waren die Wellen, diese Wasserwucht. Ich habe ein Kind auf der einen Seite, das andere Kind auf dem anderen Arm getragen – und wir hatten noch unsere Koffer und unsere Kleidung dabei. Meine älteste Tochter hat so eine Angst bekommen, dass sie heute noch dran leidet. Sie hat durch die Flucht übers Meer, die Waffen und die Bedrohung noch heute Angstzustände. Sie ist oft sehr abwesend und hat Panik vor Menschen – wenn jemand ihr zu nahe kommt, denkt sie immer: „Diese Person will mich umbringen!“
In Athen haben wir dann wieder mit Schleusern vereinbart, dass sie mich und meine Familie an die Grenze bringen, wir sind dann zu Fuß nach Nordmazedonien hinübergegangen. Wir sind so lange gelaufen, bis unsere Füße schon wund waren. Dort hat man uns nach dem langen Fußweg zunächst festgenommen, nach zwei Tagen bekamen wir unsere Papiere wieder und wurden entlassen. Nach einem Aufenthalt in Serbien und in Ungarn sind wir dann am 24. August 2015 in München angekommen.
Diese wichtigen Dokumente habe ich in einer Tasche mit mir getragen: Meinen Personalausweis, unser Familienstammbuch und mein Militärbuch. Für mich sind das die drei wichtigsten Dokumente. Ich habe gedacht, dass ich diese Unterlagen unterwegs brauchen werde, und habe sie sorgfältig aufbewahrt. Auf der Flucht hat man mich jedoch nicht einmal nach einem Dokument gefragt, nach einem Nachweis. Man wollte sich gar nicht vergewissern, ob ich wirklich syrischer Staatsbürger bin! Nur in Griechenland hat man uns einmal nach dem Personalausweis gefragt. Trotzdem habe ich die Dokumente gut und sicher versteckt und gehofft, dass unterwegs nichts passiert – dass sie nicht nass werden, dass ich sie nicht verliere.
„Heimat ist ein Stück Leben.“
Diese Dokumente tragen viele Erinnerungen in sich, positive und negative. Positiv ist, dass ich mich durch sie an jene Zeit erinnere, als es mir und meiner Familie noch gut ging – zu meiner Zeit als syrischer Staatsbürger, zu der Zeit, als noch kein Krieg war, wo alles noch schön war, wo wir in Frieden gelebt haben. Negativ, weil wir natürlich aus unserer Heimat fliehen mussten.
Und Heimat bedeutet sehr viel für mich, weil sie mich daran erinnert, wie ich mein Leben aufgebaut habe. Ich war damals sehr arm, wir hatten nicht so viel Geld, und ich habe mit Mühe und mit eigener Kraft ein Stück Zukunft, ein kleines Haus gebaut. Heimat ist ein Stück Leben. Ich habe meine ganze Kindheit dort verbracht und dort auch geheiratet, meine Kinder sind dort geboren – das verbinde ich alles mit Heimat.
Wir haben uns inzwischen aber auch so sehr an Bad Sooden-Allendorf gewöhnt, dass wir sagen können: Das ist eine zweite Heimat für uns! Ich kann klar und deutlich sagen, dass ich nicht nach Syrien zurückgehen möchte – ich würde dort niemanden antreffen, ich habe weder Familie, noch Nachbarn, noch Freunde mehr dort. Es sind neue Menschen in mein Haus eingezogen. Es würde mir wehtun, das alles noch einmal zu sehen. Es ist alles zerstört worden, es sieht alles anders aus. Wir würden es gar nicht wiedererkennen.