Flucht aus Tschetschenien 2000 nach Deutschland
Geb.: 17.2.1974
„Bei uns war Krieg – wir saßen ständig auf gepackten Koffern. Jede Minute konnten Bomben einschlagen. Auf den Straßen fuhren Panzer, über uns flogen die Militärflugzeuge – Ich hatte immer schreckliche Angst, wenn die Kinder nicht bei mir waren, dass ihnen etwas zustoßen könnte.“
Wir sind vor allem deswegen weggegangen, weil die Kinder groß geworden waren und zur Schule mussten.
Aber bei uns war Krieg – wir saßen ständig auf gepackten Koffern. Jede Minute konnten Bomben einschlagen. Auf den Straßen fuhren Panzer, über uns flogen die Militärflugzeuge – ich wollte nicht, dass die Kinder das alles sehen. Ich hatte immer schreckliche Angst, wenn die Kinder nicht bei mir waren, dass ihnen etwas zustoßen könnte.
Unser Sohn ging damals schon in die Vorklasse. Deswegen fuhr ich aufs Land zu meinen Eltern und ließ ihn dort einschulen. Aber auch dort wurde es bald gefährlich.
Ich war unter unseren Geschwistern die Einzige, die wegging. Meine Schwestern waren noch da und meine Mutter – es fiel mir sehr schwer, sie zurückzulassen, und ich habe mich später immer sehr nach ihnen gesehnt. Sie haben mir furchtbar gefehlt. Ich habe mich trotzdem entschieden zu gehen, denn auch die Kinder hatten große Angst vor dem Krieg. Sie wussten, was das bedeutet.
Immer, wenn ein Flugzeug zu hören war, bekamen sie Angst – auch als sie erfuhren, dass wir selbst zum Flughafen fahren müssen, um das Land zu verlassen. Sie hörten dann, dass sie in Deutschland zur Schule gehen und in Ruhe mit andern Kindern spielen können, dass dort kein Krieg mehr sein wird. Da wurde es besser.
Es war schwierig, überhaupt nach Deutschland zu kommen, das Visum dafür zu erhalten, denn in Tschetschenien gab es das nicht. Wir mussten zuerst nach Moskau fahren, und es hat sehr lange gedauert, bis wir das Visum dann ausgestellt bekamen. In Moskau lebten wir von April bis Juli bei meiner Schwester. So lange mussten wir auf das Visum warten.
Auf der Botschaft dort wurde uns gesagt: „Ihr bekommt hier diese Dokumente, die sind in Ordnung.“ Aber als wir sie dann an der Grenze vorzeigen mussten, wurde uns klar, dass da steht: Wir wohnen in Moskau, wir arbeiten dort, wir erhalten da ein Einkommen. Das stimmte ja alles nicht, also waren es falsche Dokumente. Deswegen war es für mich immer ein großer Stress, wenn ich sie vorzeigen musste.
Wir bekamen von Bekannten, die vor uns ausgereist waren, Tipps für unsere Flucht: Wenn wir gefragt werden würden, dann sollten wir erklären, dass wir touristisch unterwegs sind, dass wir für zwei Wochen in den Urlaub fahren. Jedes Mal, wenn man uns nach dem Ziel unserer Reise fragte, gaben wir das vor. Man sagte uns auch: Nehmt nur wenig Gepäck mit, nicht so viele Wechselklamotten, sondern einfach nur zwei Taschen. Dann fällt das nicht so auf. Wir entschieden uns dann, nur für die Kinder Sachen mitzunehmen. Wir selber, mein Mann und ich, hatten nur das Nötigste dabei, was wir am Leib trugen. Als wir dann in Deutschland angekommen waren, haben wir die alten Dokumente weggeschmissen.
Am Anfang blieb diese Angst von damals – immer, wenn die Kinder hier in den Kindergarten oder in die Schule gingen, dachte ich noch, dass es gefährlich ist, dass ich aufpassen muss. Wenn ich allein zurückblieb, schlug mein Herz plötzlich wie wild, und ich machte mir große Sorgen und Vorwürfe: Du musst doch gucken, wo sie sind und wie es ihnen geht! Diese alte Angst um die Kinder hat sich noch lange fortgesetzt. Nach einem halben Jahr beruhigte ich mich allmählich. Die Kinder kamen ja jeden Tag glücklich nachhause, hier war kein Krieg!
„Wir Menschen müssen gut zueinander sein, dann ist alles ganz leicht.“
Heimat bedeutet für mich Ruhe, Kraft und Energie, die du von deinen nächsten Angehörigen bekommst. Ich erzähle den Kindern heute noch oft von unseren Bräuchen, außerdem sind sie im Kontakt mit den Verwandten, sie können ihre Muttersprache Tschetschenisch sprechen, die sie in ihren frühen Jahren gelernt haben, und sie telefonieren regelmäßig mit den Großeltern.
Für die Zukunft wünsche ich meinen Kindern natürlich vor allem, dass sie Arbeit finden und ein glückliches Leben führen. Ich selbst habe hier mein Zuhause gefunden. Ich war 26 Jahre lang in Tschetschenien in meiner alten Heimat – und bin jetzt schon 21 Jahre hier in der „neuen“ Heimat. Was für mich wirklich Heimat geworden ist, sind die Freunde und die Bekannten. Ich habe die Möglichkeit gehabt, an einem Sprachkurs teilzunehmen, und wir haben im FamilienZentrum die deutsche Sprache gelernt – das hat mir geholfen, Kontakte zu finden. Daraus sind viele sehr gute Freundschaften entstanden.
Für mich ist eigentlich am wichtigsten, dass die Menschen einander helfen und dass man über Fehler, die keine große Bedeutung haben, auch einfach mal hinwegsieht. Wir Menschen müssen gut zueinander sein, dann ist alles ganz leicht. Vielleicht ist es einfach eine Charakterfrage, aber ich bin zufrieden, und ich kann auch Menschen nicht verstehen, die über alles klagen. Ich weiß, was es bedeutet, wenn irgendwo Krieg ist und du da weggehen musst. Dann bist du dankbar, dass du ein Zuhause gefunden hast.
Ich habe ein Wörterbuch mitgenommen, Deutsch – Russisch, Russisch – Deutsch, und einen Fotoapparat. Beides war ebenfalls wichtig, um wie Touristen zu wirken. Wir machten aus diesem Grund unterwegs auch Bilder, falls man die Filme kontrolliert hätte. Dieser Fotoapparat ist noch aus der alten Zeit von damals.
Die Tischdecke ist Teil meiner Aussteuer, wie man in Deutschland sagt. Das ist in Tschetschenien so Brauch – bei der Heirat wird die Braut von ihren Eltern ausgestattet, sie bekommt Möbel und andere Haushaltsgegenstände. Ich habe diese Tischdecke von meiner mitgenommen, ich verwende sie immer noch hier im Alltag.
Bereits während des ersten Tschetschenien-Krieges im Jahr 1994 waren wir in die Türkei gereist, meine Tochter wurde dort geboren. Meine Mutter gab mir damals diese handgemachte Kette mit, weil sie sagte: Du brauchst so etwas dort bei der Geburt, damit alles gutgeht. Die Tischdecke und die Kette erinnern mich beide an meine Mutter.