Flucht 1946 Neu-Ullersdorf » Tschechien » BSA
Wir hatten ja nichts zu essen. Und wenn wir dann in den Laden gingen und Gemüse kaufen wollten, hat die Frau gesagt: „Wir verkaufen nur an Leute, die die letzten 20 Jahre auch bei uns gekauft haben!“
Ich war damals bei der Flucht noch klein – ich bin 1938 geboren, 1946 sind wir aus dem Sudetenland raus. Mein Vater ist in Stalingrad geblieben, den habe ich nur einmal gesehen, da war ich vielleicht zwei Jahre alt. Ich kann mich an ihn nicht erinnern – es gibt nur ein einziges Bild, auf dem ich bei ihm auf dem Schoß sitze, das ist alles. Mein Vater kam nicht wieder aus dem Krieg zurück.
Das Sudetenland war ja damals tschechisches Gebiet. Meine Mutter hat erzählt, dass eines Abends ein paar Leute kamen, die sagten: „In sechs Stunden seid ihr fertig, da werdet ihr mit einem Pferdefuhrwerk abgeholt.“ So geschah es auch. Wir sind dann mit einem Zug in Güterwagen gefahren. Unterwegs hielten wir irgendwo zum Entlausen an. Dann fuhren wir weiter, und hier in Eschwege, Albungen und Bad Sooden-Allendorf ist Wagen um Wagen abgehängt worden, je nachdem, wie groß die Stadt war. Wir sind in der Nacht in Allendorf angekommen und mussten am Güterbahnhof bis morgens um 7 Uhr stehenbleiben. Dann marschierten wir in einem langen Pferch morgens hoch. Die Hälfte von uns ist ins Hochzeitshaus gekommen, wir hinten ins Siedlerheim. Von dort aus mussten wir dann immer hierhergehen, um Essen zu holen, weil die Küche im Hochzeitshaus war.
Wir hatten ja nichts zu essen. Und wenn wir dann in den Laden gingen und Gemüse kaufen wollten, hat die Frau gesagt: „Wir verkaufen nur an Leute, die die letzten 20 Jahre auch bei uns gekauft haben!“ In der Schlossgärtnerei von Schloss Rothestein haben wir geholfen, Rüben und Kartoffeln rauszuholen, da haben wir immer ein bisschen was davon abbekommen.
Als ich hierherkam, war ich schwer krank, weil ich nichts getrunken hatte, ich war vollkommen ausgetrocknet. In Allendorf hat mir der Arzt Öl besorgt und immer tropfenweise gegeben. Ich war zu Hause im Sudentenland schon drei Monate in der tschechischen Schule gewesen, aber hier bin ich erst mit neun Jahren eingeschult worden, weil ich so lange krank war. Mit 16 Jahren bin ich aus der Schule wieder raus, ich hatte also nur sieben Schuljahre. Uns hat die Stadt mit ihren Fachwerkhäusern gut gefallen, und die Leute waren nachher eigentlich ganz nett. Ich hatte dann Schulkameraden, und es gab die Schulspeisung. So bin ich hier aufgewachsen.
1996 sind meine Familie und ich mit dem Bus zu Besuch in die Heimat gefahren, danach waren wir im Jahr 2000 und dann noch einmal 2004 dort. Das Kuriose ist: Ich habe meine Frau erst hier in Bad Sooden-Allendorf kennengelernt. Im Sudetenland wohnten wir damals aber bereits nur 15 Kilometer voneinander entfernt, ohne es zu wissen. Als wir geheiratet haben, haben wir festgestellt, dass unsere Geburtsurkunden am selben Standesamt ausgefüllt worden waren!
Ich habe bei der ersten Reise mein Elternhaus, in dem ich geboren worden bin, sofort wiedererkannt. Inzwischen lebte eine tschechische Frau dort. Uns wurde gesagt: „Die Nachbarin kann deutsch, die hilft auch beim Übersetzen.“ Als meine Tochter dort klingelte, rief die Frau: „Moment, ich komme gleich!“ – als ob sie gewusst hätte, dass Deutsche vor ihrer Tür stehen! Sie ist dann mit uns in mein Elternhaus rübergekommen und hat gedolmetscht.
Wir haben der tschechischen Dame gesagt, dass dies das Haus meiner Kindheit sei. Da ging sie hinein und holte Gebäck heraus – kleine Kügelchen mit Streuseln drauf und innen drin Quark. Die hat meine Frau auch immer gebacken, die hießen bei uns „Hochzeitskügelchen“, weil es sie immer nur zu Hochzeiten und Geburtstagen gab, wenn etwas Besonderes anlag. Ich durfte dann mit ins Haus hinein. Dort hat sie mir selbstbemalte Eier geschenkt. Sie sagte: „Ich habe die hier bemalt, ich gebe Ihnen mal welche mit.“ Für mich sind sie ein Stück von zu Hause.
Auf dem Friedhof haben wir später noch auf den Grabsteinen den Namen „Schnaubelt“ unserer Vorfahren entdeckt. Das war eine richtige Entdeckungsreise, wir haben überall noch Wurzeln gefunden!
„Mich fasziniert an der Fotografie, etwas festzuhalten, was nicht vergeht.“
Heimat ist für mich inzwischen hier. Ich liebe dieses Städtchen und die Leute. Ich habe als Fotograf eine Viertelmillion Bilder gemacht, ich habe 600 Hochzeiten fotografiert, bis nach Kassel hoch, und hier jede Veranstaltung. Ich habe alleine vom Erntedankfest von 1961 an über 5.000 Dias. Ich habe dann 30 Jahre lang für die Kurgäste Diavorträge gemacht, alle drei Wochen, mit Ton und zwei Projektoren. Mich kennt jeder hier.
Mich fasziniert an der Fotografie, etwas festzuhalten, was nicht vergeht. Man bleibt auf dem Foto immer jung. Und die Blume und der Schmetterling bleiben immer da, auch wenn sie schon 50 Jahre tot sind.