Zwangsaussiedelung 1946 von Luditz (Sudetenland) nach Deutschland
„Wir waren als Deutsche praktisch Menschen zweiter Qualität, wir mussten weiße Armbinden tragen, alle Wertsachen abliefern, keiner durfte mehr Eigentum haben, das war schlimm.“
Wir wurden kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zwangsweise ausgesiedelt. Die neuen tschechischen Eigentümer des Sudentenlandes vertrieben nach und nach alle Deutschen, sie wollten keine Deutschen mehr in ihrem Land haben, obwohl die Grenzregion – das Egerland, in dem ich zu Hause war – als Teil des Sudetenlandes fast nur deutschsprachig war.
Es war eine schwierige, ungesetzliche Zeit. Bei Kriegsende im Mai 1945 hatten wir schon selbst Flüchtlinge aufgenommen – Schlesier auf der Flucht vor der Roten Armee, die dann weiterzogen nach Westen, um in die amerikanische Zone zu kommen. Bereits im Februar 1945 hatten wir die Anweisung bekommen, Ausgebombte aus Dresden aufzunehmen, ein Arztehepaar, das noch da war, als die Tschechen mein Geburtshaus, das Haus meiner Eltern, beschlagnahmten. Das wurde ganz einfach tschechisches Staatseigentum, wir mussten alles stehen und liegen lassen. Wir kamen provisorisch bei Verwandten unter.
Wir waren als Deutsche praktisch Menschen zweiter Qualität, wir mussten weiße Armbinden tragen, alle Wertsachen abliefern, keiner durfte mehr Eigentum haben, das war schlimm. Ich war damals 14 Jahre alt. In Luditz habe ich zum Glück eine Arbeit aufnehmen können, als die Tschechen dort waren, um nicht in die Kohlengruben zur Zwangsarbeit weggeschafft zu werden wie etliche andere meines Jahrgangs – fast Kinder noch, die dann unter Tage arbeiten mussten.
Man war Freiwild. Die Tschechen haben uns ausgenutzt und die schlechtesten Arbeiten machen lassen. Der tschechische Eigentümer der Gärtnerei war auch sehr rigoros, aber er hatte unter der russischen Besatzung auch zu leiden.
Die russischen Soldaten waren noch schlimmer als die Tschechen, die jagten die deutschen Frauen. Meine Mutter musste sich mit der Ärztin verstecken. Und so ging es vielen anderen Frauen, es waren schreckliche Zeiten.
Wir wurden Ende März 1946 in Aussiedlertransporten zusammengestellt. Wir mussten zum Marktplatz in Luditz kommen und unser Gepäck mitbringen, das wir mitnehmen wollten. Pro Familie – nicht pro Person – 30 Kilo Gepäck, aber wir hatten kaum etwas, was wir mitnehmen konnten, weil wir alles ja schon verloren hatten. Von dort kamen wir in ein ehemaliges Reichsarbeitsdienstlager in Buchau, das auch zum Kreis Luditz gehörte, dort wurden wir nochmals gefilzt – was den Tschechen gefiel, wurde uns weggenommen.
Mein Großvater zog seinen besten Anzug an, als es hieß, er werde weggeschafft. Er hatte sich in den Anzug Geld ins Futter eingenäht, damit er unterwegs was dabei hatte. Als er vor der Verladung stand, sagte der Tscheche, der das Haus übernahm, zu ihm: „Anzug ausziehen, der ist zu schön, der bleibt hier.“ Das war grausig.
Es wurde eine Zug aus 30 Güterwaggons zusammengestellt, und in jedem der Güterwaggons befanden sich 30 Personen. Wir wurden unterwegs mit einer Gulaschkanone versorgt, es gab auch etwas zu trinken. In den Waggons waren allerdings keine Toiletten, sondern nur Eimer, und wenn wir irgendwo auf der Strecke hielten, mussten die Eimer ausgeleert werden. Der Zug fuhr nach Marktredwitz, dort wurden wir in deutsche Güterwaggons umgeladen. Am 1. April fuhren wir los, und am 4. April kamen wir im Werratal in Bad Sooden-Allendorf an.
„Es waren primitive Zeiten.“
In den nächsten Tagen nach der vorläufigen Registrierung wurden wir 300 Menschen auf die Dörfer außerhalb von Bad Sooden-Allendorf verteilt. Man wollte in der Stadt keine Flüchtlinge in den Hotels und Pensionen haben, weil man hoffte, wieder mit dem Kurbetrieb beginnen zu können, und da wären die Heimatvertriebenen, die Flüchtlinge, Hindernisse gewesen. Wir bekamen zum Teil zwangsweise die Eiweisung in unsere Wohnungen, weil das mit einer freiwilligen Aufnahme nicht überall funktioniert hat.
Am Anfang hatten wir ja praktisch keine Hausratsgegenstände. Über einen Bezugsschein konnten wir eine Blechschüssel erwerben, die wir zum Waschen, zum Kochen, für alles nutzten. Es gab ja keine Dusche, es gab kein Badezimmer, es gab kein fließendes Wasser, das musste im Hof mit der Pumpe geholt werden. Es waren primitive Zeiten.
Wir hatten vorher noch einige Sachen in Sicherheit bringen können, weil sich schon herumgesprochen hatte, dass man alles abgeben muss, dass man praktisch enteignet wird. Die neuen tschechischen Eigentümer hatten das, was sie nicht mehr wollten, in den Garten hinten auf einen Haufen geworfen, um es anzuzünden. Wir hatten eine Einliegerwohnung oben im Dachgeschoss, da wohnte eine Kriegerwitwe, und die hatte den Mut, als die Tschechen einmal nicht da waren, aus dem, was da weggeworfen war, Sachen herauszuholen und für uns zu retten. Das Kreuz hat uns die älteste Schwester meiner Mutter in unser Aussiedlungsgepäck mitgegeben. Aber sonst war alles weg.
Der Fächer stammt von einer alleinstehenden Dame, aus Marienbad ausgesiedelt, die hier praktisch Familienmitglied war. Sie hatte auch nicht mehr sehr viel von zu Hause, nur ihr Tanzstundenkleid und ihren Fächer. Sie war mit meiner Schwiegermutter befreundet. Um mir eine Freude zu machen, schenkte sie mir das Kleid und den Fächer. Der ist von 1921, handbemalt und handbeschriftet, wie es halt üblich war – anscheinend vom Tanzstundenherrn gestaltet.
„Dass es dann hier wieder eine katholische Gemeinde gab, war wie zu Hause.“
Luditz war katholisch, es gab nur eine einzige evangelische Familie. In Bad Sooden-Allendorf war alles evangelisch, es gab zwei große Kirchen – und eine kleine Kapelle für die vielleicht 50 Katholiken. Wo jetzt die St. Bonifatius-Kirche steht, befand sich die kleine Kapelle, in der die Gottesdienste abgehalten wurden. Das hat uns Halt gegeben. Man konnte nicht alles in der Kirche miterleben, sondern musste zum Teil draußen zuhören, weil es zu viele Menschen waren. Damals war Pater Schiffer hier, der sehr viel Verständnis für die Heimatvertriebenen hatte, und der uns, die ausgesiedelt, vertrieben oder geflüchtet waren, eine Heimat gegeben. Auch Ausgebombte aus dem Rheinland waren dabei. Deswegen wurde dann auch die große Kirche gebaut, weil die kleine Kapelle nicht mehr ausreichte. Dass es dann hier wieder eine katholische Gemeinde gab, war wie zu Hause.
Durch die eigene Erfahrung hat man Verständnis für die, die jetzt durch kriegerische Verhältnisse flüchten müssen, die keine Perspektive mehr haben, die vor dem Nichts stehen, ausgebombt, verfolgt, wehrlos, schutzlos. Wir haben damals erlebt, wie schwierig es war, wenn man als eigener Volksangehöriger und Vertriebener Schwierigkeiten hatte, im eigenen Land aufgenommen zu werden.
Es ging in manchen Verhältnissen gut, in manchen schlechter. Wir wurden zum Glück assimiliert, und es ist gutgegangen.